Der Griff zum Stift

Der Griff zum Stift wie der Gang in eine Grabkammer. Die Wände mit Schriftzeichen übersät: Geschichten der Toten – für wen? Als würde die Zeit selbst gesprächig, unaufhörlich plappernd, eine schwätzende Zeitmaschine. Still und leise dagegen der bestialische Geruch der Fledermäuse. Ich steige hinab in diesen schwarzen Schacht, auf der Suche nach einer Leiche, nach einem Weg aus dem Labyrinth, auf der Suche nach einem Fenster. Je weiter ich vordringe, desto fremder erscheint mir jene Welt, die ich hinter mir ließ.

Heute vielleicht

Heute vielleicht der letzte Tag, wer weiß, ganz ohne Vorwarnung, ohne Prophezeiung. Kein Zeichen am Himmel, keine Spuren, keine mystischen Rätsel im Erbrochenen eines schlafenden Trinkers. Dieser letzte Tag ist ohne Vergangenheit, ohne Geschichte, aber voller Erzählungen, denen keiner zuhört. Wie das Schweigen der Tiere, die uns sterbend ansehen. Dieser Tag ist wie jeder andere. Kaum dass ihn jemand bemerkt. Leichte Brise in den Zweigen eines Baums. Die Menschen: so beschäftigt mit ihren Träumen. Das halbe Leben unerledigt. Dieser Tag ist ohne Bedeutung. Vielleicht wird es regnen.

Nichts Neues

Nichts Neues unter der erloschenen Sonne. Noch immer dreht sich die Welt, schwerfällig wie ein Mühlrad, unaufhaltsam, könnte man meinen, wenn längst schon alles zum Stillstand gekommen ist. Die ewige Wiederkehr in deinem erstarrten Lächeln, über Nacht versteinert, Fossil eines verlorenen Frohsinns. Unaufhaltsam der Stillstand immer wieder aufs Neue. Nichts kommt zurück, da niemals etwas fortgeht, nichts und niemand. Du bist da, im Verschwinden begriffen, beinahe geschwätzig, wie du dich abwendest, zu Staub zerfällst, die gute Laune deines Herzschlags verklungen, eine Ewigkeit ist das her. Nichts bleibt, wo niemals etwas gewesen ist.

Zum Schluss kommen

Zum Schluss kommen, dachte ich, als ich diesen Berg bestieg, am Ende sein, jetzt und hier, seelenruhig außer Atem, endlich aufhören, dachte ich, weiter geht es nicht mehr. Zuerst aber muss man den Gipfel erreichen. Es gibt kein Zurück, man kann nicht einfach umkehren, als sei nichts gewesen, nicht einmal sich umdrehen für einen flüchtigen Blick. In Wirklichkeit verschwindet, was wir hinter uns lassen, so als hätte es immer nur das gegeben, was vor uns liegt. Ich selbst bin dieser Gipfel, fast greifbar, und doch scheint es, als würde ich mich mit jedem Schritt enfernen. Ohne Herkunft bin ich, komme aus dem Nichts, mein Weg ist diese Atemlosigkeit, mein Ziel so unerreichbar nah.

Aus Feuer gemacht

Aus Feuer gemacht, dem Vergessen übergeben – was bleibt vom Menschen, wenn der Tag sich dem Ende neigt. Was bleibt von mir, wenn das letzte Wort geschrieben ist, der letzte Gesang verhallt? Was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es war? Im Wasser geboren, von Anfang an ein Ertrinkender. Weit geöffnet, die Augen eines Fisches, mit dem Kussmund voran ins Unsichtbare, blind, im Fahrwasser des Lichts. In Dunkelheit getaucht seit Anbeginn des Lebens unser Blick in den Spiegel.

Im Boden versinken

Im Boden versinken, nicht vor Scham, sondern weil es so leicht ist, schwer zu sein. Diese Erde trägt mich nicht mehr. Ich gehe unter, während ich dir in die Augen sehe, ganz ruhig, als würde ich aus dem Fenster blicken – auf eine leblose Landschaft. Ich bin zu weit gegangen, zu weit in dieser Ausweglosigkeit, Wanderer ohne Gesicht. Niemals heimgekehrt. Rastlos. Niemals fort gewesen. Ich trete auf der Stelle, bis ich schließlich versinke – so leicht, so schwerelos. Liebliche Tiefe.

Auf den Schwingen eines Schreis

Auf den Schwingen eines Schreis: meine Ungeduld. Voller Tatendrang stürze ich mich ins Mauseloch der Zukunft, umweht von den Gerüchen meiner imaginären Kindheit. Nichts weiter als eine hohle Gebärde. Dieser Schrei nichts weiter als ein Räuspern. Verschworen sind wir, du und ich, gemeinsam auf Abwegen, von denen wir nichts ahnen. Wir zerbrechen uns nicht den Kopf, klammern uns nicht an die lichten Augenblicke unseres Bewusstseins. Nein. Wir atmen mit den Füßen, stolpern, wo wir uns unserer Sache sicher sind. Unser Denken ist wie ein Schluckauf. Wo wir hinspucken, wächst kein Gedanke mehr. Welche Verschwendung.

Aus der Ferne

Aus der Ferne das Flüstern einer Wolke: es ist schon spät – ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig verstehe, es ist vielleicht schon zu spät – dazwischen liegen Welten, nichts ahnend, unschuldig. Obwohl die Nacht erst beginnt, ist sie fast schon wieder vorbei. In meiner Vorstellung klingt das nicht wie ein Widerspruch – es ist anders gar nicht denkbar. Im Halbschlaf erzähle ich von meinen Heldentaten. Es ist der Übergang von Tag und Nacht, Nacht und Tag, der mein Denken anstößt. Diese Wolke in der Ferne, das Flüstern. Es ist mein Denken, das spät dran ist, zu spät, auf dem Weg durch die Welt – zu mir.

Hinter dem bekannten Gesicht

Hinter dem bekannten Gesicht: ein Fremder, meine Stimme, irgendwo über den Wolken. Mein Herzschlag im Sinkflug, ohne Eile dem Tod entgegen. Die Treppe ist dort drüben, jede Stufe ein anderes Leben. Du bist der, der da ist: am anderen Ende des Tunnels. Schritte durchs Feuer. Meine Gedanken spiegeln sich in deiner Abwesenheit. Der Mond so nah, die Sterne wie zerbröselte Kekse. Ich erkenne dein Schweigen in meinem Mund, den Schlaf auf deinen Lippen, dein Leben in meiner Hand. Unmöglich, dich zu finden, dein Lächeln, auf der Überholspur.

Die Augen schließen

Die Augen schließen, nichts sehen, die Welt verdunkeln, nur für einen Moment. Die Uhr anhalten, einige Sekunden lang, die Zeit, das verwöhnte Schoßhündchen des Schicksals. Oder einfach umkehren, ohne zu zögern, ohne einen Blick zurück nach vorn dem Morgen die kalte Schulter zeigen. All die Engel am Wegesrand, klagend oder aber bloß erstaunt, höflich vielleicht, die geheuchelte Aufmerksamkeit falscher Tränen. Ich wische den Gedanken beiseite. Ein Vogelschwarm huscht über meine Zunge: Worte, schwarze Schatten.